Gedanken über Künstliche Intelligenz

Published by Tim on Wednesday May 17, 2023

Last modified on January 25th, 2024 at 14:06

Photo: Vyběr Socky

Was ein Ritt! Ich sitze im Zimmer eines Prager Luxushotels und packe wieder einmal diesen Koffer, aus dem ich seit knapp dreieinhalb Monaten lebe. Es ist der letzte Tag einer langen Reise mit Stationen in Barcelona, Stuttgart und nun eben Prag. Heute geht es zurück in die Heimat.

Rewind: Es ist 14 Uhr am zweiten Tag der Mouvo – einer in Prag ansässigen Konferenz zum Thema Digitale Kunst. Ich sitze auf einer ausladenden Bühne. Neben mir vier weitere Gäste in Person, drei weitere sind online zugeschaltet. Vor uns warten mehrere hundert Menschen gespannt auf unser Gespräch, das sich um künstliche Intelligenz und Kunst drehen soll.

Das Panel beginnt vielversprechend. Der Moderator zeigt sich zwiespältig, sieht sich beim Thema KI irgendwo zwischen Begeisterung und Sorge. Ich fühle mit ihm. Die restliche Diskussion beschäftigt sich mit den Auswirkungen, die künstliche Intelligenz auf die Kreativbranche haben wird: Es geht um Urheberrechtsverletzungen, die Veränderung des Kunst- und Designberufs – das Big Picture bleibt bewusst erstmal Außen vor. Ich höre interessiert zu, doch je spezifischer die Diskussion wird, desto größer werden die Fragen in meinem Kopf. Ich denke an Ethik, an die Folgen für übergeordnete Systeme und frage offen auf der Bühne, wie die anderen Gäste zu diesen Themen stehen. Die Begeisterung für die neuen Möglichkeiten steht bei ihnen im Vordergrund.

Hat das Silicon Valley Angst vor sich selbst?

Wer in den letzten Monaten die Medien verfolgt hat, ist am Thema KI nicht vorbei gekommen. Die wohl größte Überraschung: ein Teil der amerikanischen Tech-Elite – darunter Technologieethiker wie Jaron Lanier, Tristan Harris, Aza Raskin oder Yuval Noah Harari, ebenso wie Unternehmer und Ingenieure wie Elon Musk und Geoffrey Hinton – warnen vor der Unberechenbarkeit einer zu schnellen Implementierung von KI und fordern einen vorübergehenden Entwicklungsstop.

Eine Konferenz für digitale Kunst ist nicht der Ort, an dem diese großen Entwicklungen diskutiert werden. Das würde zurecht den Rahmen der Veranstaltung sprengen. Doch inspiriert von dem spannenden Austausch vor und hinter der Bühne der Mouvo, möchte ich das Momentum nutzen und einen Blick auf die Makroebene wagen.

Move fast and break things?

Untermalt vom Fortschreiten der Digitalisierung waren die letzten 30 Jahren eine technologische Achterbahnfahrt: Unvorstellbare Innovationen haben unser Leben auf vielen Ebenen verändert. Ein Teil von ihnen ist dabei weit und durchaus folgenschwer über das Ziel hinausgeschossen.

Am Anfang stand ein verheißungsvolles Versprechen: Tim Berners-Lee, heute als Erfinder des Internets bekannt, legte Mitte der 1980er Jahre den Grundstein für eine Technologie, die mit der Vision in die Welt kam, die Menschen miteinander zu verbinden und das Wissen der Welt frei zugänglich zu machen. Heute steht Berners-Lee auf den Bühnen der Welt und resümiert, das Web habe sich “zu einem Motor der Ungerechtigkeit und Spaltung entwickelt; beeinflusst von mächtigen Kräften, die es für ihre eigenen Zwecke nutzen.”

Steve Jobs presenting the first iPhone in 2007 / credit: Blake Patterson on Wikimedia Commons / license: CC BY 2.0

Ein weiteres Beispiel: 2007 stellt Steve Jobs der Welt das iPhone vor. Als Kombination aus iPod, Internet-Navigator und Telefon soll es unser Leben erleichtern. Eine weitere großartige Idee! Heute stellen wir fest, dass beispielsweise die Betreiber von Social Media Apps über unsere Mobiltelefone die Möglichkeit haben unser Verhalten zu beobachten, zu beeinflussen und uns bewusst süchtig nach ihren Anwendungen zu machen. Doch was lernen wir daraus?

Makro-Cosmos, Micro-Discussion

Manchmal denke ich, dass – wären wir etwas reflektierter und langsamer vorangeschritten – wir heute weitaus mehr von den „guten Seiten“ des technologischen Wandels profitieren könnten. Gefühlt gab es immer zu wenig Zeit, vermeintliche Innovationen angemessen zu reflektieren und darüber nachzudenken, welche Folgen neuartige Technologien für Mensch, Gesellschaft und Umwelt tatsächlich haben könnten.

Technology is the answer. But what is the question?

Cedric Price

Natürlich finde auch ich KI spannend und durchaus hilfreich. Seit Jahren nutze ich beispielsweise DeepL für die Übersetzung von Texten. Mir geht es nicht um die dogmatische Ablehnung eines vermeintlichen technologischen Fortschritts, sondern um eine gesunde Mischung aus Neugier und Skepsis, die ich in der aktuellen Diskussion in Europa vermisse. Und um die Erinnerung daran, dass Technik nicht die Lösung für alles ist… .

Alleine in Paris

Throwback: Mit 18 Jahren sitze ich in einer eiskalten Silvesternacht auf einer Parkbank in Amsterdam. Mein Reisebudget ist lange überschritten und mir bleibt nichts anderes übrig, als auf den Bus zu warten, der mich in wenigen Stunden zurück nach Hause bringen soll.

Me on my bikepacking-adventure from Paderborn to Paris

Zitternd und irgendwie unsicher schaue ich in die Ferne. Es ist einer dieser typischen Wendepunkte im Leben, doch ich weiß einfach nicht, wohin es gehen soll. Überwältigt von den Möglichkeiten und Pflichten des bevorstehenden Erwachsenenlebens fasse ich an Ort und Stelle einen Entschluss: „Bevor es losgeht, fahre ich mit dem Fahrrad nach Paris.” 

Kurz darauf besorge ich mir alle Bücher über Fahrradreisen, die ich finden kann. Ich lese von Menschen, die mit eigener Muskelkraft die Erde umrunden und bin fasziniert von den Erkenntnissen, die Langsamkeit und Reduktion ihnen bescheren. Im Sommer vor meinem Berufseinstieg radle ich alleine nach Paris und erkenne, dass es zum Leben nicht viel mehr braucht, als in zwei Fahrradtaschen passt. 

Back to basics?

Die Erfahrungen, die ich während meiner Reise machen durfte, legten den Grundstein für zwei Prinzipien, die bis heute meine Projekte und Entscheidungen beeinflussen: überlegte Reduktion und bewusst eingesetzte Langsamkeit.

Genau diesen Learnings entspringt meine Begeisterung für das Thema Lowtech. Bei der Bewegung geht es darum, sich von Technologie zu lösen, sobald sie mehr Last als Stütze ist. Für mich immer wieder ein echter Kreativitäts-Boost! Denn in einer super komplexen, interdependenten Welt ist es hilfreich, sich regelmäßig von Abhängigkeiten und Dingen zu befreien, die man nicht braucht. Ob Leben oder Technologie – es tut gut, einfach mal die Geschwindigkeit rauszunehmen – gerade in Momenten des Umbruchs, die von entscheidender Bedeutung für die zukünftigen Entwicklung sind. Wie auf meiner Reise nach Paris.

Remember your roots

Im Panel zum Thema KI sprach mich ein anderer Teilnehmer auf einen Instagram-Post an, den ich wenige Wochen zuvor veröffentlicht hatte. Es ging um den Satz: „Creative Coding with ChatGPT is like asking a stranger to chew your food.“

Er fragte mich, warum ich dem Einsatz der KI skeptisch gegenüber stünde und zeigte mir eine Arbeit, die er mit Hilfe von ChatGPT generiert hatte. Ich versuchte meinen Standpunkt zu erklären: Betrachtet man die KI als Werkzeug, um im Creative Coding bestimmte Ergebnisse zu erreichen, ist das – wie er eindrucksvoll bewiesen hatte – durchaus möglich und in meinen Augen absolut legitim. Doch beim Creative Coding geht es nicht ausschließlich um Ergebnisse.

(Creative Coding) is a process, based on exploration, iteration, reflection and discovery, where code is used as the primary medium to create a wide range of media artifacts.

Mark Mitchell, Oliver C. Bown: Towards a Creativity Support Tool in Processing. Understanding the Needs of Creative Coders. ACM Press 2013, page 143–146, cited according to: Stig Møller Hansen: public class Graphic_Design implements Code {//Yes, but how?}: an investigation towards bespoke Creative Coding programming courses in graphic design education, Aarhus 2019, page 13. Link

Für mich ist Creative Coding nicht nur ein Weg, um Grafiken und Animationen zu erzeugen, sondern ein Denkwerkzeug, das die verdeckten Strukturen des Computers sichtbar macht. Es ist Prozess, Flow-Erfahrung und künstlerische Methode in Einem und verdeutlicht nicht nur, dass Code das Material ist, auf dem unsere digitalisierte Gegenwart erbaut ist, sondern dass er uns gleichzeitig dazu ermächtigt, sie mit zu gestalten.

Nutzt man nun im Creative Coding von Beginn an künstliche Intelligenz, ohne jemals wirklich selbst zu Coden, bleiben Erfahrungen aus, die den Erkenntnisprozess und damit auch spätere Ergebnisse beeinflussen. Orientiert man sich auch hier wieder am Lowtech-Gedanken wäre es zielführender, ChatGPT dann einzusetzen, wenn man entweder genau weiß was zu tun ist und Zeit sparen möchte oder sich vor Hürden befindet, die man alleine nicht überwinden kann. Auf diese Weise löst man durch die Unterstützung der KI ein Problem, dem man selbst (noch) nicht gewachsen wäre und entfernt sich gleichzeitig nicht zu weit vom eigentlichen Akt des Codens, sodass man den kreativen Prozess weiterhin genießen kann.

Nach über drei Monaten auf Reisen sitze ich wieder in Paderborn an meinem Computer. Glücklich und immer noch aufgewühlt von den Erlebnissen meiner Tour, fühle ich mich ein bisschen, wie nach meiner Heimkehr aus Paris. Langsam setzen sich die vielen neuen Impulse, die die letzten Monate hinterlassen haben und finden ihren Weg in neue Ideen und Gedanken, die ich mal mit Code, mal mit Worten mit meiner Community teile.

Eins ist klar: Künstliche Intelligenz wird im Creative Coding in Zukunft eine wichtige Rolle spielen. Doch ohne Vorwissen eingesetzt, kann die vermeintlich hilfreiche Technologie schnell zur Sackgasse werden, die im Gewand einer Abkürzung daherkommt. Kritisches Denken und eigenständiges Ausprobieren kombiniert mit Mut zur Langsamkeit und dem Blick auf das Big Picture waren für mich immer die Schlüssel zu Erkenntnis und Kreativität. In Zeiten von Internet-Bullshit, Clickbait und FOMO scheinen mir diese Prinzipien wichtiger denn je.

Am Ende ist es mein Ziel, Diskussionen anzuregen und im Dialog zu bleiben. Ich bin sehr glücklich, dass ich in der Creative Coding Community immer wieder Menschen kennenlerne, die sich reflektiert, kritisch und mutig mit neuen Themen beschäftigen. Die Geschwindigkeit des technologischen Wandels beunruhigt mich weiterhin, doch mit einer Ahnung davon, wo sich die größten Potenziale für mich verstecken, habe ich Lust bekommen, die Unexplored Territories auszukundschaften, die sich gerade an der Schnittstelle von Creative Coding und KI auftun. Seid Ihr dabei?

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